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Titel
Geschichte der Arbeitsmärkte. Erträge der 22. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 11.-14. April 2007 in Wien


Herausgeber
Walter, Rolf
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte - Beiheft 199
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Resch, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschaftsuniversität Wien

In einem umfangreichen Band gibt Rolf Walter die Erträge einer Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte heraus, die 2007 in Wien stattfand. Das Genre des Tagungsbands bringt es mit sich, dass einerseits eine große inhaltliche Bandbreite versammelt wird, andererseits doch manch nahe liegende Aspekte des Themas nicht behandelt werden können. Aufgrund der Vielfalt der Beiträge musste offenbar auch darauf verzichtet werden, den Band in explizit ausgewiesene Teilbereiche zu gliedern. Allenfalls ist als Ordnungsschema zu erkennen, dass nach der Einleitung des Herausgebers einige eher einführende Übersichten zu ausgewählten Aspekten der Arbeitsmarktentwicklung kommen, auf die chronologisch angeordnete Spezialstudien folgen.

Im ersten Beitrag geht Franz Baltzarek unter dem Titel "Präkeynesianische Wurzeln staatlicher Arbeitsbeschaffungspolitik in Österreich" auf Arbeitsbeschaffungs- und Infrastrukturprojekte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ein, wobei sich die Frage stellt, ob damit nicht der Begriff "Präkeynesianismus" doch überdehnt wird. Bekanntlich setzt sich Keynes in seiner "General Theory" explizit von einigen Aspekten der entwickelten klassischen bzw. neoklassischen Theorie, insbesondere von Pigou, ab. Folglich erscheint es etwas weit hergeholt, Maßnahmen staatlicher Wirtschaftspolitik vor dem 20. Jahrhundert, als noch nicht einmal jene Orthodoxie, die Keynes zu überwinden trachtete, fertig ausgearbeitet war, als "präkeynesianisch" zu bezeichnen, nur weil nachfragestimulierende Staatsausgaben getätigt wurden.

Baltzarek charakterisiert indes trefflich die oft widersprüchliche Wirtschaftspolitik in Österreich während der 1920er- und 1930er-Jahre, die von antimodernen Affekten, gruppenspezifischer Interessenpolitik, Budgetnöten und paläoliberalen Strömungen gekennzeichnet war. Als in der Tat präkeynesianische Projekte sind unter diesen Vorzeichen der Plan des Wirtschaftsjournalisten Otto Deutsch und des Ingenieurs Alexander Vértes aus dem Jahr 1932 und Vorstöße von Seiten der Gewerkschaften (etwas zögerlicher auch der Sozialdemokratie) zu werten, den österreichischen Arbeitsmarkt durch anleihenfinanzierte Ausgabenprogramme zu stimulieren. Aus heutiger Sicht ist man sich jedoch einig, dass Deutsch und Vértes zwar mit der Argumentation im Sinne des Multiplikatorkonzepts eine theoretische Pionierleistung vollbracht, die damit verbundenen Effekte aber erheblich überschätzt haben.

Lutz Bellmann gibt danach einen Überblick über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 1948. Des Weiteren erörtert er aus makroökonomischer Sicht Lohnstarrheiten, Interaktionen von Institutionen und Arbeitsmarktschocks sowie mikroökonomische Erklärungen starrer Löhne (implizite Kontrakte, Vermeidung von Kosten des Arbeitskräftewechsels, Effizienzlohntheorie etc.) und geht schließlich auf die Segmentierung des Arbeitsmarktes nach Qualifikationsniveaus sowie die Evaluierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ein.

Toni Pierenkemper vertritt in seinem Überblicksartikel zur Entwicklung des "Normalarbeitsverhältnisses" die Position, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts freie Lohnarbeit und somit Arbeitsmarktbeziehungen nur ein Minderheitenphänomen gewesen seien. Erst die Fortschritte der Industrialisierung seit der Mitte des Jahrhunderts führten dazu, dass Lohnarbeit allmählich zu einem Massenphänomen wurde, das neue institutionelle Settings (Sozialversicherung, Gewerkschaften, neue Formen der Arbeitsvermittlung) mit sich brachte. Erst im 20. Jahrhundert wurde "Lohnarbeit dann zum prägenden Merkmal für das Beschäftigungssystem" (S. 97). Nachdem die Weimarer Republik von "gravierenden Konflikten zwischen den Arbeitsmarktparteien geprägt" war, brachte das "Golden Age" der Nachkriegszeit Vollbeschäftigung im Rahmen von "Normalarbeitsverhältnissen", deren Erosion seit den 1980er-Jahren voranschreitet. Pierenkemper wirft resümierend die Frage auf, ob aus historischer Perspektive nicht die Arbeitsmarktentwicklung des "Golden Age" als "alles andere als 'normal'" zu sehen und daher ein "schmerzhafter Lernprozess" in Richtung "Flexibilisierung" und Erosion der "Normalarbeitsverhältnisse" unumgänglich sei.

Mit Bernt Fuhrmanns Auswertung von Quellenbeständen zu Lohnarbeit und Entlohnungsformen in der spätmittelalterlichen Agrarwirtschaft aus zwei Besitzungen des Reichserbkämmerers Konrad von Weinsberg sowie der Ämter des Fürstbistums Basel im 15. Jahrhundert beginnt der Abschnitt chronologisch angeordneter Spezialstudien. Von Christof Jeggle stammt ein Beitrag über Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmärkte im Gewerbe der frühen Neuzeit anhand des Leinengewerbes in Münster/Westfalen im 16. und 17. Jahrhundert. Jeggle wendet sich explizit gegen die insbesondere von der Historischen Schule vertretene Dichotomie von "freien Arbeitsmärkten" seit der Industrialisierung versus traditionellen Formen gesellschaftlicher Allokation von Arbeitskräften. Stattdessen schlägt er vor, sich bei vergleichenden Untersuchungen verschiedener historischer Ausprägungen von Märkten auf "drei wesentliche Koordinationsprobleme der Marktteilnahme zu konzentrieren: Konkurrenz, Kooperation und die Praktiken der Bewertung" (S. 150f.). Auf dieser Grundlage gelingt es Jeggle herauszuarbeiten, dass für die Weber die Anerkennung ihrer Leinweberbruderschaft im frühen 17. Jahrhundert eine wichtige Grundlage für gewisse monopolistische Vorrechte darstellte, zugleich aber flexible und wechselhafte Beziehungen zu anderen Ausübungsformen des Handwerks entstanden.

Auch Josef Ehmer widmet in seinem Beitrag über "Handwerkliche Arbeitsmärkte im Wien des 18. und 19. Jahrhunderts" konzeptionellen Vorüberlegungen viel Raum, wobei er wie Jeggle (und dessen Kommentator Reinhold Reith) dafür plädiert, "Markt, Wettbewerb, soziale Ungleichheit und Individualität nicht länger als Gegensatz zum 'alten Handwerk', sondern als Elemente vormoderner kleingewerblicher Produktion" zu sehen (S. 191). Demgemäß weist er darauf hin, dass die handwerklichen Arbeitsmärkte aus differenzierten Teilmärkten bestanden, große Unterschiede zwischen Stadt und Land herrschten, insbesondere das Handwerk der großen Städte eine vielschichtige Struktur aufwies und angesichts dieser vielfältigen gleichzeitigen Differenzierungen die Epochengrenze um 1800 "in der neueren handwerksgeschichtlichen Forschung eine geringere Rolle spielt" (S. 194). Eine Umsetzung derart differenzierender Zugangsweisen demonstriert Ehmer anhand der Gesellenwanderung nach Wien, der Stadt-Land-Beziehungen sowie der Gesellenmobilität in Wien und der Strukturen dortiger handwerklicher Arbeitsmärkte. Weitere Regionalstudien zum 18. und 19. Jahrhundert stammen von Werner Drobesch (Innerösterreich) und Frank Konersmann (Rheinhessen, Vorderpfalz und Westpfalz).

Die letzten zwei Fünftel des Bandes werden von Studien zur Sozialpartnerschaft dominiert. Boris Gehlen hebt in seinem Beitrag über gescheiterte sozialpartnerschaftliche Ansätze in der Weimarer Republik neben der Strukturkrise in der Steinkohlen- und Stahlindustrie insbesondere die Pfadabhängigkeit institutionellen Lernens hervor, die es verhinderte, dass die Akteure (auf Unternehmerseite) die doch vorhandenen Spielräume für kooperative Lösungen wahrnahmen. Felix Butschek stellt als wesentliche Faktoren für die Ausbildung der österreichischen Sozialpartnerschaft nach 1945 die Rolle der Einheitsgewerkschaft sowie die kooperative Ausrichtung der Interessengruppen heraus. Günther Chaloupek legt anschließend dar, wie die Handlungsspielräume für die österreichische Sozialpartnerschaft mit dem EU-Betritt und veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit den 1990er-Jahren kleiner wurden.

Jürgen Nautz vergleicht abschließend die österreichische mit der deutschen Sozialpartnerschaft. In beiden Staaten wurden in der Zwischenkriegszeit Gesetzesgrundlagen für das Tarifvertragswesen geschaffen, die Antagonismen zwischen den Arbeitsmarktparteien jedoch nicht überwunden. In Deutschland war das Tarifvertragsgesetz von 1949 Ausdruck und Grundlage einer kooperativen Entwicklung, die sich zugleich gegen die staatliche Einflussnahme auf die Gestaltung der Tarifverträge wandte. In Österreich hingegen wurden die Tarifverträge auf Arbeitgeberseite fast ausschließlich von der gesetzlichen Interessenvertretung (Wirtschaftskammer) abgeschlossen und die Tarifvertragspolitik war in eine umfassende Kooperation von Arbeiterkammern, Gewerkschaften, Unternehmern und Staat integriert. Nautz resümiert, dass die sozialpartnerschaftliche Praxis in Österreich und Deutschland über die kollektive Gestaltung der Arbeitsmärkte hinaus zu einer Integration der Gesellschaft und Verbesserung der Governance-Strukturen beigetragen habe.

Im einzigen über den deutschen Sprachraum hinaus weisenden Beitrag befasst sich Christoph A. Rass mit der Entwicklung transnationaler Arbeitsmärkte in Europa auf der Grundlage bilateraler Wanderungsverträge von den 1920er- bis in die 1970er-Jahre. Er zeigt auf, wie die Anwerberstaaten immer wieder durchaus als Konkurrenten um migrationsbereite Arbeitskräfte auftraten. Den Entwicklungshöhepunkt erreichte das auf bilateralen Verträgen basierende Migrationssystem um 1970. In einem Kommentar zu Rass regt Ad Knotter an, neben der staatlichen Ebene weitere Aspekte wie spontane Migrationsströme und die Verbindung des Migrationssystems mit der "Nationalisierung" der Arbeitsmärkte seit dem späten 19. Jahrhundert einzubeziehen.

Einen Aspekt, der sowohl in aktuellen als auch in historischen Kontexten große Beachtung verdient, bearbeiten Thomas Buchner und Philip R. Hoffmann-Rehnitz, nämlich nicht-reguläre Erwerbsarbeit in der Neuzeit. Ihr Forschungsinteresse führt sie weg von der bipolaren Perspektive "moderner Arbeitsmarkt vs. vormoderne Formen der Arbeitsallokation". Als zentrale Punkte für die Untersuchung regulärer und nicht-regulärer Formen von Arbeit schlagen sie vor, sowohl der Entwicklung der normativen Grundlagen nachzugehen als auch die sozialen und wirtschaftlichen Praktiken unter den jeweiligen normativen bzw. institutionellen Bedingungen zu erforschen. Sie illustrieren diesen Ansatz an Entwicklungen im Handwerk, das seit der frühen Neuzeit auf normativer Ebene von einer Verfestigung der Begriffe gekennzeichnet war, die zwischen regulären und nicht-regulären Arbeitsformen unterschieden. Zugleich bildeten sich in der Praxis Formen der Duldung von Störern bzw. ein Nebeneinander von "regulärem" Zunfthandwerk und "Pfuschern" heraus, die durchaus im Handwerk ausgebildet sein konnten.

Insgesamt gehören zu den Themenschwerpunkten des Bandes einerseits Fragen der vergleichenden Erforschung vormoderner und moderner Formen der Allozierung von Arbeitskräften sowie der Rolle von Zünften bei der Definition regulärer Erwerbsarbeit, andererseits moderne Entwicklungen im Rahmen sozialpartnerschaftlicher Settings. Im Hinblick auf die erstgenannten Fragestellungen wird einhellig die Sichtweise in der Tradition der Historischen Schule, einem "modernen" Arbeitsmarkt dichotomisch traditionelle ältere Formen entgegenzustellen, durch Ansätze relativiert, vergleichbare Merkmale über die Zeit zu erforschen. Im Hinblick auf den Stellenwert der Zünfte wird die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstandene Orthodoxie stark relativierter Zunftmacht ihrerseits relativiert. Diese beiden Diskursstränge geben somit einen Einblick in die lebendigen Prozesse des Faches, die jeweils etablierte Doxa durch neue, anfänglich unorthodoxe Standpunkte in Frage zu stellen und weiter zu entwickeln.

Die auf die Sozialpartnerschaft bezogenen Beiträge sind sich im Wesentlichen einig, dass diese Politikansätze – zumindest in ihrer Zeit – zur erfolgreichen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung beigetragen haben. Abschließend sei noch einmal auf den Titel eingegangen, der wie bei vielen anderen Büchern eine "Geschichte von …" verspricht, obwohl er mit Ausnahme eines Beitrages nur Arbeiten zum deutschsprachigen Raum bietet. Angesichts der Tatsache, dass die deutschsprachigen Bevölkerungen heute weniger als 15 Promille der weltweit bestehenden Arbeitsmärkte ausmachen, könnte man diese Beschränkung durchaus im Titel durchklingen lassen.